I DID IT! 100 KILOMETER SIND 99+1.

Veröffentlicht auf von bloodlet

Schnulzenrocker, ehemaliges Teenie-Idol oder Stefan Raabs  ewiger Kontrahent.
Genau der läuft bei Kilometer 35 an mir vorbei.
Ich erkenne Ihn am roten Zopf und am Deichmann-Trikot, das er sich bestimmt gut bezahlen lässt.
Im Ziel, 65 Kilometer später, wird dieser Joey Kelly um ca. 1 Stunde vor mir sein.

Biel, Schweiz. Die fünfzigste Austragung des berühmtesten 100 Kilometer Laufs in Europa.
Start 22 Uhr. Wir finden uns Nachmittags ein. Rekordteilnehmerzahl: 2.000.
Und darunter sind junge Athleten, ältere Zähe, und noch viel ältere noch Zähere.
Eine ganze Stadt stellt sich auf diesen Lauf der Superlative ein.

Mir flattern also ganz schön die Nerven. Die Tage vor Biel war ich in meiner Einbildung sterbenskrank, hatte Fieber, Halsweh, Muskelschmerzen. Und das alles zusammen im Kopf.
Ich bin 100 Kilometer-Neuling. Ich habe vor genau 1 Jahr mit regelmässigem Laufen begonnen. Kurz darauf finishte ich den München Marathon in 3:36 h und meine ersten 50 km Ultra unter jordanisch-sengender Sonne in 4:01.

Aber heute 100 km.
Hallo! Das ist doppelt soviel. Und bei meiner Träumerei welche Zeit überhaupt möglich wäre gewinne ich schnell Abstand vom System irgendwelche Marathonzeiten mal 2,5 zu nehmen.
Als Debütant gibt es nur, kann es nur  ein Ziel geben : Ankommen!

Das Wetter spielt mit. Es wird eine kühle und trockene Nacht. Der Startschuss fällt um 22 Uhr bei 12 Grad. Der grosse Block an Läuferinnen und Läufern als ganz Europa verabschiedet sich in die Nacht.
Die ersten Kilometer führen durch die Bieler Innenstadt. Nachtschwärmer bejubeln uns, Kinder dürfen wachbleiben und klatschen ab. Davon animiert  gehe ich das erste Viertel  zu schnell an.
Ich bin hellwach, meine Beine funktionieren bestens. Die Luft ist herrlich. Irgendwann nach ungefähr einer Stunde liegt Biel hintermir. Ich sehe nur noch einen Lichtkegel vor meinen Füssen. Es ist bewölkt und der Halbmond ist Verlierer. Ich finde zu Anfang nur schlecht eine passende Gruppe. Viele sind zu schnell, etliche zu langsam. Für 5 Kilometer lauf ich mit einem offensichtlich sehr austrainierten Schweizer. "4.28er Schnitt bin jetzt"..."ich antworte "oh ja das ist gut"....ich wollte sagen "oh jaaaa das ist viel zu schnell".
Ich nehme langsam das Tempo raus und muss ab Kilometer 30 Tribut zollen.  Beim ersten Kontrollpunkt in Oberamsern sind 37 km geschafft und meine Uhr zeigt 3 Stunden 18 Minuten. Im Ziel sind Läufer vor mir die an diesem Punkt 45 Minuten langsamer sind. Soviel dazu.

Ich trinke Iso, esse etwas Brot und ein Gel. Da ich die ganzen 100 Kilometer über eine Trinkflasche in der Hand trage, bin ich ständig gut hydriert. Ich hab das Laufen mit Flasche in der Hand zuvor trainiert und es beeinträchtigt mich absolut nicht.
Die Nacht wird magisch und so langsam begreife ich wieso Biel Kult ist. Mein erstes Tief ist überwunden. Bei Kilometer 40 läuft alles rund. Ich geniesse. Ich hör Stereo Mcs und werde locker. Für 30 Minuten kann ich mit einer Gruppe laufen die gut funktioniert aber irgendwann auseinanderfällt. In regelmässigen Abständen durchquere ich kleine Dörfer die hell beleuchtet sind. Die Einwohner sind alle auf den Beinen. In dieser einen Nacht ist die Region 24 Stunden wach. Partymucke dröhnt aus Boxen. Vor jeder Garage stehen 3 Garnituren Bierbänke auf den gut gelaunte Menschen sitzen und feiern.

Das Profil ist nicht flach. Die Schweiz ist nicht wirklich flach. Biel ist zwar kein Berglauf aber ein ständiges auf und ab...und das zerrt an den Muskeln die irgendwann hart sind wie 10 Tage altes Brot.

"Ich hab die Hälfte geschafft - Halleluja!" Ab jetzt zähl ich rückwärts. Mein Hoch ist vorbei. Jeder Schritt tut weh. Und ich realisiere - den anderen geht es genau so. Aus anfänglichen kurzen Unterhaltungen ist Totenstille geworden. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt.  Und dennoch ist es ein gutes, aufbauendes Gefühl inmitten diese Gemeinschaft zu sein.
 Irgendeine definierte Zielzeit hab ich mir aus dem Kopf geschlagen. Das interessiert mich nicht. Ich denke in kleinen Zielen. Das nächste wäre die Verpflegungsstelle km 77 - dort wartet mein Kumpel Sascha mit Freundin Grit und Onkel Hans mit Boulion, Red Bull und Käsebrot...ich kann keine Riegel und Gels mehr sehen!
Ich nehme mir also 10 Minuten Auszeit. Zwischenzeitlich ist es hell geworden. Ich habe viel Zeit verloren, mein Magen hat rebelliert, hat mich 6-7 mal in die Büsche gezwungen. Eine Tabeltte Imodium Akkut löst das Problem ab Km 80 erstaunlich schnell. Da hätte ich früher draufkommen können.
Ein Schalter legt sich von alleine um. Mein Körper will wieder. Und das nach über 8 Stunden laufen. Ich spüre das Ziel. Aus den 6 Grad  werden langsam moderate Temperaturen. Ich hab das Gefühl dass sich eine langes Problem auflöst. Von dem der lange Zeit überholt wurde wird einer der andere überholt und das tut meiner Psyche gut - die überzeugte dann wohl meine Physis.
Die letzten 20 Kilometer. "Unter 11 Stunden - das wird nixmehr"...mir bleiben dazu noch weniger als 2 Stunden.

Beim Schild Km 97 ist mir allerdings klar. Im Ziel hab ich eine grosse 10 auf dem Display...ich könnte jetzt gehen um das zu erreichen.
Ich bin nicht nur ein Finisher! ich bin ein Sieger! Denn ich laufe in einer ganz speziellen Kategorie. Die heisst nicht M35 oder M40.
Meine Kategorie heisst: 34 Jahre, 1 Jahr Laufsport, 2 Kinder, Frau, Fulltimejob und noch andere Hobbys zum Laufen.

Ich lauf in 10 Stunden 50 Minuten nach 100 Kilometer übers Ziel. Ich bin überglücklich! Und das ist mein persönliches Glück! Es gehört mir! Keiner der jemals einen Marathon oder einen Ultralauf absolviert hat weiss wie schön das ist! Es geht nicht um die Zeit. Es geht rein um das Erleben. Biel ist dafür die perfekte Plattform - speziell für Debütanten.

Fürs Protokoll: ich werde 560 er unter 1994 gesamt. 200 sind ausgestiegen.
99% bin ich gelaufen. Auf das letzte Prozent hab ich getrost verzichtet - wegen der Fahrt nach Kroatien, in den Familienurlaub.
Fazit.
100 km sind lang. Und länger, wenn man über 10 Stunden läuft. Der Sieger lief unter 7 Stunden. Der Zweite 7 Stunden 35 Minuten. Aber die interessieren mich nicht die Bohne.

Ein Tag ist nun vorbei und ich denk schon an nächstes Jahr!

Vorschau: Im November lauf ich einmal rund um Korsika.








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B
Moinsen,<br /> klasse Bericht und Glückwunsch zu dieser Tollen Leistung.<br /> Auf dem letzten Bild siehst ziemlich zerdeppert aus ;-))<br /> Ist aber wohl klar oder???<br /> <br /> LG<br /> Bodhi
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R
Tolle Leistung, und das bereits nach erst einem Jahr Lauftraining. Ich gratuliere Dir!<br /> Viele Grüße, Ramona
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M
Toller Bericht. Erstaunlich, was man als Laufeinsteiger alles schaffen kann. Aber die wichtigste Erkenntnis - ich laufe für mich und nicht gegen andere ;-) <br /> <br /> Mein Sieg - meine Motivation :-) <br /> <br /> Biel werde ich auch mal laufen - vielleicht nächstes Jahr...<br /> <br /> Auf alle Fälle Gratulation zu Deiner Leistung!<br /> <br /> Gruß<br /> Martin
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